Beine wie ein Storch

Als die Idee an mich herangetragen wurde, einen Dokumentarfilm über Edzard Reuters Jugend im türkischen Exil zu drehen, ahnte ich nicht, welche faszinierende Geschichte sich dahinter verbarg. Ich wusste zwar, dass Deutsche in den 1930er Jahren vor den Nazis in die Türkei geflohen waren – darunter auch die Familie des legendären Berliner Bürgermeisters Ernst Reuter – doch ich war skeptisch, ob dieses biografische Fragment genug Stoff für einen Film hergeben würde. Hinzu kam die Tatsache, dass unser Protagonist Edzard Reuter, den ich vorher nie persönlich getroffen hatte, im Frühjahr 2016 bereits 88 Jahre alt war, und ich mir nicht sicher sein konnte, ob und wie er die geplanten Dreharbeiten in Stuttgart, Ankara und Istanbul bewältigen würde. Doch Dr. Faruk Akyol vom Berliner YEE versicherte mir, Herr Reuter erfreue sich bester Gesundheit! Prompt sagte dieser unsere erste Verabredung in Stuttgart ab, weil er eine Grippe auskurieren musste.

Schwerer jedoch wogen Reuters Bedenken, ob angesichts der aktuell frostigen Beziehungen unserer Länder dieser Film überhaupt zustande kommen würde. Tatsächlich stand der Türkei 2016 ein unglückseliges Jahr bevor. Doch bei Edzard Reuter und mir hatte die Idee eines länderübergreifenden Filmprojekts bereits Wurzeln geschlagen. Der tiefen Verbundenheit Ausdruck zu verleihen, die wir beide aus unterschiedlichen Gründen für die Türkei hegen, konnte eine Art Friedensmission sein, der wir uns widmen wollten – mochte unser Beitrag auch noch so bescheiden sein. Und so begannen wir im September 2016, in einem kleinen Stuttgarter Studio, zahlreiche Erzählungen Edzard Reuters zu Erlebnissen seiner Kindheit und Jugend während der Jahre 1935 bis 1946 aufzunehmen. Einen Monat später setzten wir die Dreharbeiten schließlich in Ankara und Istanbul fort. Für mich als Regisseur war die außerordentliche Konzentrationsfähigkeit meines „Hauptdarstellers“ ein Glücksfall und erlaubte eine Präzision, wie sie sonst nur mit professionellen Schauspielern möglich ist. An unserem letzten Drehtag, in der europäischen Altstadt Istanbuls, kam es schließlich zu einem kleinen Vorfall, der mir erwähnenswert scheint. Eine Passantin hatte fasziniert die Dreharbeiten beobachtet und machte Herrn Reuter unvermittelt ein bewegendes Kompliment: Er sei der wunderbarste Mann, dem sie heute auf der Istiklal Caddesi begegnet sei. Welch ́ ein Glücksgefühl mag er in diesem Moment empfunden haben?! Hier, unter all den Tausend flanierenden Menschen, inmitten jener Stadt, die er seit seiner Jugend mehr geliebt hat, als irgendeine andere.

Teaser

Share