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Eine Art Liebe

Für seinen 2012 in Leipzig uraufgeführten Film begleitete Dirk Schäfer den dreißigjährigen Nevzat durch dessen ungeordnetes Leben.
Nevzat, der im Schoße eines kurdischen Clans an der türkischen Grenze zum Iran aufgewachsen ist, wurde im Alter von 15 Jahren verheiratet, um eine schwelende Blutrache zu befrieden. Doch er hat diese Ehe nie vollzogen und blieb dem Dorfleben vorzugsweise durch Jobs auf Baustellen in der Megametropole Istanbul fern.
„Eine Art Liebe“ wurde auf den Festivals in Leipzig und Prizren mit einer Lobenden Erwähnung bedacht.

„Ich lebte bereits mehrere Jahre in Istanbul, als mir dort eines Tages in der Metro der dreißigjährige Nevzat begegnete. Ein Kurde, der zwischen seinem Heimatdorf an der iranischen Grenze und der Megametropole Istanbul als Bauarbeiter hin‐ und herpendelte. Nevzats ausdrucksvolles Gesicht und seine charismatische Erscheinung fielen mir sofort auf, und ich sprach ihn an. Als Dozent an der Filmabteilung einer privaten Universität schlug ich ihn zunächst als Kleindarsteller für Studentenfilme vor. Doch keiner der Studenten wollte ihn besetzen. Die Aussicht in einem Film mitzuwirken, ließ Nevzat jedoch nicht mehr los. Immer wieder rief er mich an und fragte, ob es nun endlich eine Rolle für ihn gäbe. Eines Tages verabredeten wir uns in einem Teegarten, wo ich ihm eigentlich eröffnen wollte, dass immer noch kein Film für ihn in Aussicht war. Stattdessen begann Nevzat, mir gegenüber sein Herz zu öffnen und erstaunliche Dinge aus seinem Leben zu erzählen. Er war im Alter von fünfzehn Jahren zwangsverheiratet worden, um die Blutrache mit einer anderen Familie zu befrieden. Und mit neunzehn hätten ihn die ungeschriebenen Gesetze seines Clans fast zum Mörder gemacht. Sein fremdbestimmtes Leben drohte, nur noch in ungeordneten Bahnen zu verlaufen. Doch es schien, als wolle er nun sein Schicksal selbst in die Hand nehmen. Als erstes plante er, sich von seiner ungewollten Frau scheiden zu lassen. Denn er hatte diese Ehe nie vollzogen, hatte keine eigenen Kinder, kein Zuhause. Ich dachte nur einen kurzen Moment nach und sprach dann aus, was mir mein Instinkt eingab: Seine eigene Geschichte könne der Inhalt für einen Film sein. Einen Dokumentarfilm. Über die Zeit, die vor ihm lag. Diese Idee faszinierte ihn zwar weniger als die Rolle in einem Spielfilm, schien aber besser als gar nichts. Er willigte also ein. Ich ahnte nicht, wie viele schlaflose Nächte und Sorgen mir das Projekt bereiten würde. Weniger das Drehen und die Gestaltung als vielmehr die Anteilnahme an Nevzats mühevollem, erstaunlichem, couragiertem Leben. Mein tiefes Mitgefühl für ihn wurde der wichtigste Antrieb für diesen Film. Die Dreharbeiten waren nach ca. 14 Monaten abgeschlossen. Ein halbes Jahr später war die erste Rohschnittfassung fertig, mit der ich Testvorführungen veranstaltete. Nach einer schöpferischen Pause, die ich auch zum Geldverdienen nutzte, ging es im Frühjahr 2012 weiter. Drei Monate später schloss ich den Feinschnitt ab. Ich hatte einen Weg gefunden, diese wichtige Zeit meines Lebens an der Seite eines ungewöhnlichen “Helden”, von der mir über 50 Stunden Drehmaterial geblieben waren, in einen 70‐minütigen Film zu verwandeln. Nevzat, der ab und zu den Glauben an unser Projekt verloren hatte, war vom Resultat erstaunt und mit sich selbst und mir zufrieden. Doch sein Wunsch, eine Rolle in einem „richtigen“ Film zu spielen, ist geblieben.“ Dirk Schäfer

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